Ein schönes altmodisches Wort fällt bei der allgegenwärtigen Debatte um Work-Life-Balance und der Vereinbarkeit von Familie und Beruf nur sehr selten: Feierabend. Feierabend war für mich als Kind, wenn mein Großvater am späten Nachmittag um halb sechs die vier Kilometer von der Möbelfabrik auf seinem alten, schwergängigem Fahrrad nach Hause radelte und seinen braunen, meist mit etwas Sägemehl bedeckten Arbeitshut an die Garderobe hängte. Er tauschte die staubige Arbeitshose gegen eine Freizeithose und setzte sich zu einem frühen, kräftigen Abendessen, häufig Pinkel (Grützwurst) mit Spegelei (Spiegelei), an den Küchentisch. Fieravend.
Feierabend war für mich auch, wenn meine Mutter ungefähr eine Stunde später gut riechend durch die Tür kam und ihren schweren Wollmantel in den Dielenschrank hängte. Sie arbeitete als Verkäuferin im Einzelhandel, zu einer Zeit, als die Geschäfte um 18 Uhr zu schließen hatten. Meine Mutter hatte also zu recht familienfreundlichen Zeiten Feierabend. Nur während des Weihnachtsgeschäftes und zur Inventur machte sie manchmal Überstunden.
Heute fallen mir beim Wort Feierabend noch immer spontan viele schöne Dinge ein: ein Gläschen Wein auf der Couch, ein Treffen mit einer guten Freundin in der Tapas-Bar um die Ecke, Tomaten ernten im Schrebergarten, Tanzen gehen. Feierabend ist mehr als nur ein Wort, das das Ende eines Arbeitstages definiert. Feierabend beschreibt die wohltuende Erleichterung nach vollbrachter Arbeit, den Stolz auf das Geleistete, das klare Signal, den Computer herunter zu fahren, die Bürolampe auszuschalten und nach Hause zu gehen. Der Feierabend verspricht wohlverdiente Entspannung, abschalten, runterfahren.
Doch obwohl das Wort Feierabend so positiv besetzt ist, gilt es inzwischen schon fast als ungehörig, auf ihm zu beharren. Während meiner Zeit als freie Autorin beim Berliner Fernsehsender rbb war ich immer wieder verblüfft, wenn ein Kamerateam äußerst pünktlich zu Dienstschluss das Equipment zusammenräumte, egal, was um uns herum passierte. So war ich als Reporterin einmal zu einem Termin mit dem Jugendamt im Berliner Stadtteil Marzahn geeilt. Es ging um den dringenden und sehr dramatischen Verdacht einer Kindesmisshandlung. Kurz vor dem Interview, das noch am selben Abend in den Nachrichten ausgestrahlt werden sollte, verließ mich der Kameramann mit dem Hinweis, er habe jetzt Feierabend. Sein Nachfolger für die nächste Schicht würde bald eintreffen. Nur leider steckte der im Stau. Das Interview musste ich in letzter Minute führen. Die Verzögerung setzte mich unter enormen Zeitdruck, den Beitrag an diesem Abend noch für die Sendung fertig zu stellen. Aber ich hatte keine andere Wahl. Wir freiberuflichen Autoren fühlten uns in solchen Momenten wie auf einem anderen Planeten. Klammheimlich waren wir natürlich extrem neidisch. Denn die Redakteure, so dachten wir still, waren einfach zu blöd, sich derart gut wie die Techniker gegen Überstunden zu organisieren. Überstunden fielen ständig an, so war eben der Job. Und sie wurden selbstverständlich von uns geleistet, ohne Murren, und in der Regel ohne zusätzliche Vergütung. Uns Autoren wäre es auch zu peinlich gewesen, kurz vor einem Interview das Feld zu räumen, weil der Feierabend winkte. Das passt nicht zum Berufsethos. Wir Autoren fühlten uns aber nicht nur ethisch zum Weitermachen und Berichterstatten verpflichtet. Uns war deutlich bewusst, dass wir viel zu schnell zu ersetzen waren. Zahlreiche weitere hochengagierte Jungautoren warteten bereits hinter der nächsten Ecke. Und ein Beharren auf den Feierabend kurz vor dem Interviewtermin hätte sicherlich dazu geführt, dass ich mich von weiteren Aufträgen hätte verabschieden können.
Auf den eigenen Feierabend ohne schlechtes Gewissen zu bestehen, das schaffen nur noch sehr wenige. Der Großteil der arbeitenden Bevölkerung muss durch ständige Präsenz Leistungsbereitschaft demonstrieren. 9-to-5-Jobs gelten inzwischen als recht altmodisch. Überstunden kann man dann ja einfach wieder abfeiern, wenn die Zeiten weniger hektisch sind. Doch dafür bietet sich immer seltener die Gelegenheit.
Arbeitgeberverbände versuchen ohnehin seit Jahren, den Acht-Stunden-Tag einfach abzuschaffen. Diese gesetzliche Regelung gestalte sich doch heutzutage völlig unflexibel. Schließlich sind wir per Smartphone und Laptop überall zu erreichen, können auch außerhalb des Büros weiterarbeiten. Die Trennung von Arbeit und Freizeit mit dem Feierabend dazwischen klingt für viele sehr rückständig. Wer seine Arbeit mit Leidenschaft macht, muss den Feierabend nicht herbei sehnen. Er oder sie hat dann auch viel mehr Möglichkeiten, die Arbeit flexibel ans Privatleben anzupassen. Den Feierabend nimmt man dann, wenn es am besten passt, im Zweifel aber wohl dann, wenn es dem Arbeitgeber am besten passt. Während meiner Zeit als freie Fernsehjournalistin verfügte ich über keinerlei Souveränität über meinen Feierabend. Den bestimmte, verständlicherweise, meist die Sendezeit. Um 19 Uhr 30 musste der Beitrag fertig sein: gefilmt, geschnitten und vertont.
Den Deutschen rinnt der Feierabend wie feinkörniger Sand langsam durch die Finger. Rund 2,1 Milliarden Überstunden haben sie im Jahr 2017 angehäuft, die Hälfte davon unbezahlt. Das geht aus der Antwort der Bundesregierung auf eine parlamentarische Anfrage der Fraktion der Linken hervor. Dabei hat das wunderschön klangvolle Wort Feierabend in keiner mir bekannten Sprache ein Pendant. Das englische Äquivalent call it a day, das Französische après le travail oder das Spanische fin de trabajo sind ein schwacher Abklatsch. Selbst die Schweden haben dafür bisher kein hübsches Wort erfunden. Feierabend heißt bei ihnen schlicht stängningstid (Schließzeit). Dabei nehmen sie es mit dem Feierabend besonders ernst.
Das Wort Feierabend hat im Deutschen einen ganz besonderen Beiklang: das wohlige Bewusstsein, für den Tag genug geschafft zu haben und sich nun dem angenehmen Teil des Tages widmen zu können. Dieses wohlklingende Wort sollte deshalb nicht allein den Sprachhistorikern überlassen werden.
Mehr zum Feierabend hier:
https://www.michaela-schonhoeft.de/veröffentlichungen/feierabend/