Fünf internationale Lösungen für eine bessere Work-Life-Balance; Teil 1: Pünktlich Feierabend machen

Die Niederländer arbeiten gerne Teilzeit. In Island sind Eltern besonders gleichberechtigt. Französinnen belasten sich seltener mit einem überfrachteten Mutterbild, und spanische Familien ziehen viel Glück aus den kleinen, gemeinsamen Momenten im Alltag.  

 

Es gibt kein Land auf dieser Welt, das sich als Schlaraffenland für Familien bezeichnen lässt. Nicht alle schwedischen Kinder wachsen in Bullerbü auf, hinter der hübschen egalitären Oberfläche in Skandinavien brodelt es durchaus. Doch bestimmte politische Entscheidungen und gesellschaftliche Strukturen machen das Leben für Väter und Mütter in einigen Ländern wesentlich angenehmer.

 

 

Warum das so ist, versuchen Soziologen, Ökonomen und auch Psychologen in vielen kulturvergleichenden Studien zu erklären. Nicht alles lässt sich davon eins zu eins in unsere Arbeitskultur übertragen. Doch Unternehmen, arbeitende Eltern und Politiker können sich von den Lösungsansätzen anderer Länder inspirieren lassen. Es geht dabei vor allem um eines: Wertvolle Zeit zu schaffen, für die Familie, für Erholungspausen und nachhaltiges, entstresstes Arbeiten in Unternehmen und Organisationen, die ihren Mitarbeitern ein Leben neben dem Job zugestehen.

 

Inspiration Nr.1: Wir brauchen eine neue Feierabendkultur

 

Bei einer Reise nach Stockholm im vergangenen Sommer war ich verblüfft, sehr häufig um 17 Uhr, spätestens um 18 Uhr vor verschlossenen Ladentüren zu stehen. Viele Geschäfte in der Gamla Stan waren gar nicht geöffnet, vor den verriegelten Türen hingen hübsche Schilder mit dem Hinweis: "Wir sind im Sommerurlaub, Ende August sind wir wieder für Dich da." Es war Anfang Juli, eine Zeit, in der viele  einkaufswütige Touristen in die Stadt einfielen.

 

Das Thermometer zeigte über 30 Grad, die Sonne brannte. Wir stiegen in der Altstadt auf eine Fähre und fuhren hinaus auf die glitzernde Ostsee, vorbei an unzähligen kleinen Schäreninseln, auf denen sich hübsch gekleidete schwedische Familien vor ihren bunt gestrichenen Holzhäuschen in der Sonne räkelten. Junge Männer rasten mit nacktem Oberkörper und coolen Sonnenbrillen auf ihren Motorbooten an uns vorbei. Ihre weiblichen Begleiterinnen ließen die langen Mähnen im Wind flattern: La dolce vita auf Schwedisch. Mich erfasste, ich gebe es zu, ein Anflug von Neid. Diese Menschen hier schienen zu wissen, wie es sich leben lässt. Es war mitten in der Woche, ein ganz normaler Arbeitstag.

 

Zugegeben, der kurze skandinavische Sommer ist kein repräsentativer Zeitpunkt, um Rückschlüsse auf die schwedische Arbeitskultur zu ziehen. In den warmen, hellen Monaten um den Mitsommer herum gilt in Stockholm der Ausnahmezustand. Man genießt die Sonne, die nur für wenige Stunden hinter dem Horizont verschwindet und tankt Energie für den langen, dunklen und kalten Winter. Im Sommer verrichtet ein Großteil der Schweden deshalb nur ein Minimum an Arbeit.

 

Doch Schweden ist ein Land,  das sich grundsätzlich und obsessiv mit Work-Life-Balance  beschäftigt, nicht nur von Juni bis August. Denn auch im Winter verlassen die meisten Angestellten spätestens um 17 Uhr ihre Büros. Der Feierabend wird in Schweden pedantisch ernst genommen. Diejenigen, die dann noch sitzen bleiben, haben entweder nicht auf die Uhr geschaut oder gelten als Mitarbeiter mit schlechtem Zeitmanagement.

 

Faul sind die Skandinavier nicht. Die Schweden arbeiten im europäischen Vergleich alles andere als wenig, Mütter und Väter zusammen genommen insgesamt sogar mehr Stunden in der Woche als in Deutschland. Die Arbeitszeit ist allerdings egalitärer aufgeteilt, Teilzeit eher selten.

 

Der Clou ist: Die Arbeitszeiten aller verlaufen im Takt des Familienlebens. Man beginnt früh, sobald die Schule anfängt und der Kindergarten öffnet und beendet seine Arbeit nach acht Stunden pünktlich. Überstunden werden nur in Ausnahmefällen gemacht, dann, wenn wirklich die Hütte brennt.  Der Feierabend gilt in Skandinavien als heilig, ob man Kinder hat oder nicht. In der Regel hat auch der C.E.O. keine triftigen Gründe, weiter am Schreibtisch zu sitzen, alle anderen sind ja auch schon gegangen. Außerdem geht er oder sie ja auch mit gutem Beispiel voran.

 

In der betriebsamen schwedischen Hauptstadt stemmt man sich noch vehement gegen die 24/7-Kultur, die von den Menschen verlangt, ständig zu Diensten zu stehen. Die Hyperflexibilität ist eine Folge der Globalisierung, die nach wissenschaftlichen Erkenntnissen mehr schadet als nutzt. In Stockholm ist von diesem Zwang noch nicht viel zu spüren, und das ist gut so.

 

Die Dänen, die eine ähnliche Arbeitskultur wie die Schweden verteidigen, nennen die Zeit direkt nach Feierabend "Aschenputtel-Stunde". Das ist die Stunde, in der auf wundersame Weise alle ihren Arbeitsplatz verlassen, ihre Kinder aus der Schule abholen, im Chor singen oder auf der Ostsee herumpaddeln.

 

Menschen, ob mit Kindern oder nicht, brauchen verlässliche Zeitstrukturen, in denen sie wirklich abschalten dürfen. Work-Life-Blending, das starke Verschmelzen von Beruf und Privatleben, stresst sehr viele Arbeitnehmer.  Ob in Singapur, Sidney, San Francisco oder Stuttgart: Weltweit klagen Angestellte darüber, dass sie nie mehr wirklich runterfahren.

 

Die französische Regierung versucht ein Gesetz durchzuboxen, dass ihren Bürgern dazu verhelfen soll, mal nicht an die Arbeit zu denken: le droit de la déconnexion, das Recht, sehr regelmäßig den Schalter auf "off" zu stellen. "Die Entwicklung der Informations- und Kommunikations-Technologie, ganz besonders, wenn sie schlecht gemanagt oder reguliert wird, kann der Gesundheit der Arbeitnehmer schaden", heißt es in dem Gesetzesentwurf. "Die Arbeitsbelastung und die Informations-Überlastung, das Verwischen der Grenzen zwischen privatem und beruflichem Leben, sind Risiken, die mit dem Gebrauch von digitalen Technologien in Verbindung stehen." Le droit de la deconnexion schlägt vor, dass Unternehmen mit ihren Mitarbeitern formale Richtlinien aushandeln, damit das Berufsleben nicht ständig ins Private überschwappt, ein gemeinsamer, definitiver Feierabend zum Beispiel.

 

Jeder sollte das Recht haben, sich nach getaner Arbeit zurückziehen zu können, nicht erreichbar zu sein, es sei denn, es hängt das Leben eines anderen Menschen davon ab. Immer mal wieder Souveränität über die eigene Zeit haben, das ist für sehr viele Menschen bisher nur ein schöner Traum.

 

Medizinisch, psychologisch, aber auch wirtschaftlich ist dieses Bedürfnis nach Zeit-Souveränität allerdings eine Notwendigkeit. Auch wenn die Controller es gerne so hätten: Ganz besonders geistige Produktivität reagiert nicht immer auf Knopfdruck und lässt sich auch nicht in ein enges Zeitfenster pressen. Diese Erkenntnis sollte zur Folge haben, Toleranz dafür zu entwickeln, dass an einem bestimmten Tag vielleicht auch mal etwas nicht fertig wird und alle eine kreative Pause machen. Davon geht in der Regel weder die Welt unter noch ein Unternehmen pleite. Sich rauszunehmen, auf ein Boot zu steigen, bei sich selbst zu sein, ein wenig Platz für freie Gedanken zu haben, an andere Dinge zu denken: Ein kollektiver früher Feierabend ist dafür genau das richtige Rezept.

 

Im Unternehmen lässt sich solch eine Feierabend-Kultur aber nur dann etablieren, wenn auch die Management-Ebene von ihrer Nützlichkeit überzeugt ist. Zwar bemüht sich zum Beispiel Volkswagen recht streng darum, dass Mitarbeiter pünktlich Schluss machen. So knipst der Konzern den Mail-Server nach Feierabend und am Wochenende aus. Aber es soll ManagerInnen geben, die über private Email-Adressen weiter arbeiten oder sich nach dem offiziellen Feierabend auf der Toilette verstecken, um danach heimlich wieder an den Schreibtisch zu schleichen. Wenn sich solche Vorfälle häufen, sollte das Unternehmen noch einmal an der Kommunikation des Change-Prozesses arbeiten.

 

Schweden, Dänen oder Norwegern ist es wichtig, ein Leben neben der Arbeit ihr eigen nennen zu können, Zeit für weitere Leidenschaften zu haben. Wenn es mal im Job nicht so gut läuft, gibt es auch noch andere Dinge im Leben, aus denen sich Sinn ziehen lässt.

 

Hochgerechnet auf die Einwohnerzahl, bringt Schweden nicht nur  überdurchschnittlich viele Angler und Wochenendhaus-Besitzer hervor, sondern auch Schriftsteller, Musiker und andere Künstler. Sie müssen nicht unbedingt von ihrer Kunst leben, aber haben trotzdem Zeit dafür, nach Feierabend.