Weg mit der Präsenzpflicht!

Es war dieser Blick des Magazin-Leiters eines TV-Senders, der in mir sehr nachhaltig den Wunsch einer selbständigen Tätigkeit weckte.   Dieser Blick, der sich aus einer Mischung aus  Erstaunen, ein wenig Entsetzen, viel Abschätzigkeit und  einer ordentlichen Prise Paternalismus zusammensetzte. Wie konnte ich auf die Idee kommen, in der heißen Anfangsphase eines frisch zu produzierenden Fernseh-Magazins bereits um 18 Uhr 30 aus dem Büro marschieren?

 

Ich hinterließ an jenem Abend weder Lücken im Sendeplan noch unbearbeitete Texte oder einen Cutter, der ohne mich nicht weiterschneiden konnte. Ich hatte in der Tat meine Arbeit ordentlich erledigt, weitere produktive Vorschläge für die nächsten Tage eingebracht und absolut nichts mehr zu tun. Ich wollte mich in einem Tanzstudio ein wenig regenerieren und meinen sehr vereinnahmenden Arbeitgeber für ein oder zwei Stündchen  vergessen. Kinder hatte ich damals zum Glück noch nicht.

 

Statt Verständnis erntete ich Verständnislosigkeit.  Meine weitere Präsenz in der Redaktion hätte an diesem Abend niemandem mehr etwas genützt. Aber mein Verlassen wurde als Verrat am Team gedeutet, als offene Rebellion gegen die von allen geforderte Hyperpräsenz. Ich ging an diesem Abend tanzen, viel zu viele Abende dagegen ließ ich es. Als Reporterin hielt ich der  Redaktion noch ein paar Monate die Treue, bevor ich schließlich kündigte und von dort an nur noch wesentlich selbstbestimmter als freie Autorin arbeitete. Festanstellungen habe ich seitdem gemieden. Das Misstrauen, gleichzeitig sozialversicherungspflichtig und selbstbestimmt arbeiten zu können, sitzt weiterhin tief.

 

---- wer am längsten sitzen bleibt -----

 

In Deutschlands Fernsehredaktionen, aber nicht nur dort, halten sich nach wie vor sehr klassische fordistische Arbeitskulturen. Arbeit hat sichtbar, unter den Augen der Vorgesetzten abgeleistet zu werden. Wer am längsten sitzenbleibt, zeigt am deutlichsten, dass er oder sie Karriere machen möchte und am besten dazu in der Lage ist, sein Privatleben weit hinten anzustellen. Dass Eltern und andere, die ein Leben neben der Arbeit haben, darunter besonders leiden, versteht sich von selbst. Dass solch eine Arbeitskultur weder gesund noch produktiv ist, hat sich zwar ebenfalls schon herumgesprochen, wird aber von einer Mehrzahl der Unternehmen weiterhin ignoriert.

 

Während in vielen anderen europäischen Ländern erfolgreich und nicht wirtschaftsschädigend an einer flexiblen Arbeitszeitkultur gemeisselt wird, haben im deutschen und angelsächsischen Sprachraum noch immer calvinistische Selbstgeißelungs-Attitüden Hochkonjunktur. Wer etwas darstellen will, der arbeitet und zwar richtig viel. Mit Überstunden lässt sich hierzulande noch immer hervorragend angeben. Auf einer Party in Schweden oder den Niederlanden würden viele Gesprächspartner sich zu Recht fragen: Gibt es denn sonst nichts im Leben außer der Karriere, der Arbeit? Hast Du nicht Angst, ein wenig eindimensional zu wirken?

 

 Barrie Kosky, Intentendant der Komischen Oper in Berlin, erklärte kürzlich in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung, er würde regelmäßig 16 Stunden am Tag arbeiten. Sein Gehalt, das er nicht offenlegte, sei er deshalb wohl wert. Es mag

eine gewisse Ironie in Koskys Stimme gelegen haben, die ich zwischen den Zeilen interpretiere. Doch seine Aussage spiegelt die noch weit verbreitete Mentalität des "Stunden-Kloppen" weit über das nötige und vor allem produktive und gesunde Maß hinaus.

 

Starr auf Präsenz zu bestehen bedeutet Flexibilität zu behindern. Entgegen eines europaweiten Trends geht die Zahl der Deutschen, die auch mal zu Hause arbeiten, kontinuierlich zurück.  Nur ein Drittel der Betriebe bietet ihren Mitarbeitern standardmäßig Homeoffice an. "Je flexibler, vernetzter und virtueller unsere Arbeitswelt wird, umso antiquierter werden Arbeitsformen, die sich an reiner Präsenz und deren Messung orientieren" wundert sich Stephan Richter in " The Globalist".

 

 

---- Unternehmen mit flexiblen Arbeitsformen sind profitabler -----

 

Wer auch nur einen Tag pro Woche von zu Hause aus arbeitet, dem wird oft automatisch unterstellt, Karriere sei ihm oder ihr unwichtig. Ganz besonders gilt das, wenn die Mitarbeiter als Grund für die Heimarbeit angibt, Job und Familie besser vereinbaren zu wollen. Lisa Leslie von der University of Minnesota fand in einer Studie heraus, dass Manager flexible Arbeitszeiten für sinnvoll erachten, wenn sie der Produktivitätssteigerung dienen. Aber sie lehnten diese ab, wenn Mitarbeiter Flexibilität einforderten, um ihr privates Leben besser um die Arbeit herum arrangieren zu können.

 

Dass Menschen, die von zu Hause aus arbeiten, effektiv sind, ist längst wissenschaftlich belegt. Unternehmen mit flexiblen Arbeitsformen sind laut einer Studie des Economist bis zu dreimal profitabler.  Forscher der Universität Stanford schickten 255 Angestellte eines Callcenters in China ins Homeoffice und untersuchten ihre Arbeitsleistung. Die Mitarbeiter, die von zu Hause aus arbeiteten, erhöhten ihre Produktivität um 13 Prozent. Fast alle Untersuchungen zeigen, dass Arbeitnehmer, die regelmäßig  Arbeit mit nach Hause nehmen können, zufriedener sind und sich stärker mit ihrem Unternehmen identifizieren.

 

---- Hauptsache, die Leistung stimmt -----

 

Arbeitnehmer in Deutschland haben bisher  keinen grundsätzlichen Anspruch darauf, einen Teil ihrer Arbeit zu Hause verrichten zu dürfen. Sie sind auf eigene Zusatzklauseln im Arbeitsvertrag oder auf Betriebsvereinbarungen angewiesen. In den Niederlanden dagegen hat seit Juli vergangenen Jahres grundsätzlich jeder Arbeitnehmer das Recht auf Homeoffice. Der Anspruch gilt für Angestellte von Betriebe einer bestimmten Größe (ab zehn Mitarbeiter), wenn durch die Heimarbeit keine Sicherheitsrisiken entstehen und keine zwingenden betrieblichen Gründe dagegen sprechen, die Anwesenheit am Arbeitsplatz nicht obligatorisch ist.

 

Einige Top-Manager haben zwar begriffen, dass bloße körperliche Anwesenheit nicht die geistige quasi nach sich zieht. "Die Präsenz-Kultur ist tot", findet auch Henkel-Vorstand-Vorsitzender Casper Rorsted. Rorsted ist übrigens Däne. "Mir ist es egal, wo meine Leute arbeiten, Hauptsache, die Leistung stimmt", sagte er der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Seine Mitarbeiter könnten gern zwischendurch ins Fitness-Studio gehen und ihm hinterher die Finanzanalyse schicken. Auch der neue Chef von Vodafone, Hannes Ametsreiter, will weg von der strengen Präsenzkultur. Alle seine Mitarbeiter dürften bis zu 50 Prozent der Arbeitszeit außerhalb des Büros verbringen. Kontrolliert werde die Arbeitszeit nicht. "Das ist eine Sache des Vertrauens", verspricht er. Sache des Vertrauens bedeutet allerdings lauch häufig: Es wird dann doch wieder viel zu viel gearbeitet, ob nun Zuhause oder nicht.

 

--- Change-Prozesse einleiten ----

 

In den Medien tauchen in jüngster Zeit immer wieder Beiträge auf,  die das "Work-Life-Blending" beklagen, die völlige Verschmelzung von Beruf- und Privatleben.  Natürlich ist der große theoretische Vorteil des Acht-Stunden-Tages seine Kalkulierbarkeit, doch der  Nachteil der Starrheit überwiegt doch.  Flexible Arbeitszeiten müssen nicht zur Folge haben, dass Arbeitnehmer ständig zur Verfügung stehen. Nach einer Studie des Allensbach Institutes sahen weniger als ein Fünftel der Home-Office-Nutzerinnen und -Nutzer dies überhaupt nur annähernd als ein Problem an.

 

BMW hat für seine Büromitarbeiter in Deutschland eine Betriebsvereinbarung abgeschlossen, die ein Recht auf Unerreichbarkeit nach Feierabend beinhaltet. Ähnliche Regelungen zum Schutz der Freizeit gibt es unter anderem auch bei anderen großen Autobauern sowie bei der Deutschen Telekom. Dort haben sich die leitenden Angestellten verpflichtet, ihren Mitarbeitern nach Dienstschluss oder im Urlaub keine Emails hinterherzuschicken. Ausnahmen müssen gesondert vereinbart werden.

 

Die Welt der "remote work" lockt vor allem mit dem Freiheitsversprechen, Privatleben und Arbeit in eine bessere Balance zu bringen. Mitarbeiter wissen, dass Unternehmen ihnen damit einen Vertrauensvorsprung einräumen, den sie erfüllen müssen. Unternehmen und Organisationen, die erfolgreich viel Flexibilität zulassen, haben zuvor meist einen intensiven Diskurs durchlaufen.  Alle Beteiligten müssen sich darauf verlassen können, dass die neue Flexibilität auch weiterhin Leistung garantiert. Alle müssen wissen, auf was sie sich einlassen. Die Arbeit im Home Office ist kein Selbstläufer. Sie erfordert einen neuen Führungs- und Arbeitsstil,  Prozesse des Neu- oder Umdenkens. Die Arbeitsteilung muss klar festgelegt, Erwartungen und Ergebnisse klar definiert werden.

 

---- Die Arbeit dem Leben anpassen ----

 

Dass viele Mitarbeiter selbst für ein paar Stunden Homeoffice kämpfen müssen und deshalb häufig Nachteile erfahren, ist sehr bedauernswert. Viele Unternehmen führen vor, wie eine moderne, humane und nachhaltige Arbeitsplatzkultur gestaltet werden kann. "Kein Betrieb" meint Stephan Richter im The Globalist, "kann heute noch glaubhafte Ausreden formulieren, warum er seinen Beschäftigten die organisatorische Vereinbarung von Familie und Beruf zum Spießrutenlauf mit handfesten Karrierenachteilen macht."

 

Cate, eine Freundin, Amerikanerin, leitende Managerin eines Wissenschaftsverlages, arbeitet von ihrem Vollzeitjob jede einzelne Stunde im Home Office. Sie lebt in Berlin, ihr Arbeitgeber sitzt in den USA. Sie schaltet sich mindestens einmal am Tag per Bildschirm zu den Konferenzen zu, ist mit ihren Mitarbeitern ständig in Kontakt, per Telefon, per Email, per Skype. Cate ist extrem zufrieden mit ihrem Arrangement. Sie erarbeitet konzentriert kreative Open Access Modelle, wurde jüngst befördert, aber hat trotzdem sehr viel Zeit für ihre Familie und vor allem nur sehr selten das Gefühl, es niemandem recht machen zu können. Ihre Arbeit passt sich ihrem Leben an. Nicht jede Arbeit lässt sich komplett von Zuhause erledigen. Viele möchten dies auch gar nicht. Aber wer bereits 30 bis 50 Prozent seiner Arbeit zeitlich und örtlich flexibler leisten kann, der gewinnt sehr viel Lebensqualität hinzu.