Muss Arbeit Sinn machen?

Arbeit, so habe ich es einst in meiner Kindheit gelernt, gehört zum Leben wie das Zähneputzen, der sonntägliche Kirchgang und das Kinderkriegen. Man musste dabei kein großes Vergnügen empfinden, aber all diese Dinge galten als fester Bestandteil des gewöhnlichen Erwachsenenlebens. Sie wurden erledigt ohne groß ihren Sinn zu hinterfragen. Nach der Arbeit durfte man sich schöneren Dingen widmen, einem guten Buch zum Beispiel, ein paar Stunden an der Nordsee oder einem Bier im Dorfkrug.

Menschen, die nicht arbeiteten, existierten in meiner kindlichen Erinnerung nicht. Das lag natürlich an der offiziell sehr niedrigen Arbeitslosigkeit in meiner Region, aus der ich stamme. Es wurde den Menschen aber auch nicht erlaubt, nicht zu arbeiten. Wer keine Arbeit hatte, der tat zumindest sehr beschäftigt. Die Arbeit formt den Menschen, so die feste Überzeugung, ohne Arbeit gab es keine Daseinsberechtigung. Die Dorfgemeinschaft meiner Eltern, die geographisch dem Westen anzusiedeln ist, folgte einer sehr marxistischen Arbeitsethik: Wer gut arbeitet, der lebt auch gut. Der Mensch entfaltete durch produktive Arbeit sein volles Potential. Das galt zumindest für die Männer. Viele von ihnen schufteten in der Erzmine oder auf dem Feld. Die Frauen blieben, sobald sie Kinder hatten, Zuhause und erhielten für ihre Arbeit vom Mann ein wöchentliches Taschengeld. Von diesem durften sie sich auch mal schöne Schuhe kaufen.

 

Große Träume hatten meine Eltern nie, zumindest sprachen sie uns gegenüber nie davon. Beide stammten aus sehr armen Familien, arbeiteten sich aber kontinuierlich hoch in die Mittelschicht. Es wurde ein Haus gebaut, ein Auto gekauft. Ab und an fuhren wir für ein paar Tage zur Erholung in den Harz, einmal sogar mit einem sehr alten VW-Passat bis an die Costa Brava. Meine Eltern hatten als Beruf das gewählt, was sich ihnen anbot und Sicherheit versprach, frei nach Aristoteles: Wir arbeiten, um danach Spaß zu haben. Mein Vater wurde zuerst Tischler, dann Polizist, meine Mutter arbeitete als Verkäuferin in einem Porzellangeschäft, gegen den Willen ihres Mannes.  Für Mütter war bezahlte Arbeit damals nur in Notfällen vorgesehen. Wir verspürten als Kinder nie Existenzängste. Doch uns wurde schon früh eingebläut: "Das ist uns alles nicht automatisch gegeben. Wir arbeiten hart dafür."  Aus uns sollte einmal etwas "Besseres" werden. Wir sollten studieren, am liebsten höhere Beamte werden, Richterin zum Beispiel.  Studiert haben wir alle drei, nur Juristin ist von uns keiner geworden.

 

Dass ich einen ganz anderen, finanziell eher risikoreichen Beruf erwählte - aus einem tiefen Interesse an gesellschaftlichen Analysen heraus und wegen meiner großen Leidenschaft fürs Schreiben - haben meine Eltern bis heute nicht verstanden. Obwohl ich ihnen bisher keinen Anlass gegeben habe, sorgen sie sich um meine finanzielle Zukunft, ganz besonders auch um meine Rente, vermutlich doch zu Recht.

 

Im Laufe meiner beruflichen Stationen in internationalen Unternehmen und Fernsehsendern  habe ich die moderne angloamerikanische Arbeitsethik verinnerlicht, nach der Arbeit nicht rein dem Broterwerb dient, sondern mein Leben erfüllen soll. Ich verschreibe mich meinem Beruf mit Leidenschaft. Und diese Leidenschaft sorgt dafür, alles zu geben, am Anfang des Berufslebens etliche unbezahlte Praktika abzuleisten, sich wahnsinnig reinzuhängen, in der Elternzeit panisch den Arbeitsmarkt zu beobachten und regelmäßig sehr viel zu arbeiten. Die Identität jedes einzelnen wird heutzutage noch viel mehr von der Arbeit geformt als dies in meiner Kindheit für meine Eltern galt. Arbeit ist zudem nicht mehr Selbstzweck, sondern hat tief sinnstiftend zu sein. Sie muss erfüllen, zumindest in der Theorie.

 

Das sei alles Blödsinn, behauptet die amerikanische Autorin Miya Tokumitsu. Sie hat ein Buch mit dem Titel "Do what you love and other lies about success and happiness" geschrieben und beklagt, dass die geforderte Sinnüberfrachtung im Beruf rein den Interessen der Unternehmer diene. Der Slogan „You can do it“ helfe dem Management dabei, ihre Mitarbeiter noch mehr auszubeuten. „Wenn der Job das ist, was man liebt, warum sollte man noch irgendetwas anderes tun?“ Wer behauptet, seine Arbeit mit Leidenschaft zu machen, dürfe sich schließlich nicht über Überstunden beschweren. 

 

Man muss das Leidenschafts-Mantra nicht ganz so schwarz sehen wie Tokumitsu. Grundsätzlich ist es sicherlich schön, Freude an der Arbeit zu haben. Optimismus und ein gewisses Maß an Verdrängung des Negativen ist gesund. Das zeigen diverse psychologische Studien. Therapeuten sprechen seit ein paar Jahren vom „Depressiven Realismus“. Menschen mit einem eher trüben Gemüt schätzen die Welt realistischer ein. Das tut ihnen allerdings nicht gut.

 

Doch die Grenzen zwischen optimistischer Leidenschaft, die gute Laune macht, und Selbst- oder Fremdausbeutung sind fließend. In Berlin, das seit einigen Jahren magnetisch Internet-Start-ups anzieht, vernimmt man  häufig die Klagen von Freunden und Bekannten über absurde Betriebskulturen. Zwar werden die mehr oder weniger jungen Mitarbeiter regelmäßig zu coolen Ausflügen nach Barcelona oder Sankt Petersburg geflogen. Man ist schnell mit dem Chef per Du. Doch innerhalb der Unternehmen herrscht härteste Ellbogen-Mentalität. Die jüngeren Mitarbeiter ergeben sich dieser Kultur in der Regel. Doch die etwas Erfahrenen, die Generation ab 40, reibt sich verwundert die Augen und leidet darunter.

 

Viele Start Ups sind stolz auf  ihre erbarmungslose, nur nach außen hin liberale und lockere Arbeitskultur. „Die Leute, die damit nicht klarkommen, können sich doch einen anderen Job suche“, interpretiert Jeff Bezos, der Gründer von Amazon, Adams Smiths Theorie von der unsichtbaren Hand des freien Marktes, die schon alles regelt. Für einen geringen Stundenlohn sollen die Mitarbeiter alles geben und dabei gleichzeitig noch daran glauben, die Welt zu retten oder sie zumindest ganz neu zu erfinden. "Die Gratis-Snacks sind ja nett“, schreibt Dan Lyons , der in New York eine Weile für HubSpot arbeitete. „Aber man muss auch damit klarkommen, dass das Gehirn mit blödem Jargon und Ideologie gefüttert wird. Man sei auf einer Mission, die Welt zu verändern. Es wird viel Kapital generiert. Aber das meiste davon geht doch an die Leute an der Spitze, an die Gründer und die Investoren.“

 

Wer sich die Entwicklung der Einkommensverteilung in den Industrieländern, ganz besonders auch in Deutschland anschaut, mag möglicherweise zu einem ähnlichen Schluss wie Tokumitsu und  Lyons kommen. Zwar wächst mit der Globalisierung der Arbeitsmarkt für Hochqualifizierte und auch hochbezahlte Arbeitskräfte. Banken und Anwaltskanzleien scheffeln Kapital wie nie zuvor. Doch um an die Direktoren- und Partnerposten zu kommen, muss Mann oder Frau über viele Jahre schuften, rund um die Uhr. Sich einen Platz an der Spitze des Einkommensspektrums zu sichern, ist Resultat konstant harter Arbeit und erbarmungslosen Wettbewerbs. Nicht alle können mithalten, auch sehr viele hochqualifizierte und hochmotivierte Menschen nicht.

 

Sehr viele dieser Jobs werden ohnehin an Mitglieder einer bestimmten Schicht vergeben, deren Familien bereits seit Jahrzehnten zur Einkommenselite zählen. Die Eintrittscodes in die Welt der Supererfolgreichen sind häufig für Außenstehende nicht offensichtlich. Diese Menschen sprechen eine ganz bestimmte Sprache, sie treffen sich auf ganz bestimmten Partys und spielen sich innerhalb ihrer Netzwerke die Jobs zu. Natürlich gibt es noch immer Aufsteiger, doch sie werden weniger. Der Rest hängt dem Mythos nach, durch harte Arbeit lasse sich alles erreichen. Das stimmt nur leider nur in Ausnahmefällen.

 

„Just lean in“ brüllt Sheryl Sandberg, Geschäftsführerin von Facebook, jene an, die noch zögern. Was haben Mann oder Frau auch für eine andere Wahl als sich reinzuhängen?  Gerade den Müttern ist angeraten, nicht allzu lange aus ihrem Job auszusteigen, sonst ist das Spiel vorbei. Zeit für die Liebsten ist knapp. „Quality Time“ muss „Quanitity Time“ ersetzen. Luft für besondere Interessen und Hobbies bleibt dann nur noch selten. Nichts geht mehr, was nicht irgendwie doch den beruflichen Interessen dient.

 

Keynes hatte in den 30er Jahren vorhergesagt, dass wir spätestens 2030 alle nur noch 15 Stunden in der Woche arbeiten müssen. Die Technik und damit die Produktivität würde so rasant voranschreiten, dass wir mit ein paar Stunden Arbeit in der Woche unser Soll erledigt hätten. Und mit diesem Soll könnten wir unsere grundlegenden materiellen Bedürfnisse erfüllen. Über den Sinn der Arbeit müsse man dann auch nicht mehr groß nachdenken. Denn der  Sinn des Lebens entfaltet sich in all seiner blühenden Schönheit bereits nach dem sehr frühen Feierabend, durch Bildung, durch Sport, durch das Leben in der Familie, durch ehrenamtliche Tätigkeiten.

 

In den Jahrzehnten, in denen meine Eltern in den Arbeitsmarkt eintraten, schien Keynes Traum von der Freizeitgesellschaft nach und nach in Erfüllung zu gehen. Die Produktivität im reichen Teil der Welt stieg rasant an, auch der Stundenlohn des Durchschnittsarbeiters. Gleichzeitig mussten die Menschen in der Tat weniger arbeiten. Sie hatten Zeit für die freiwillige Feuerwehr, die Familie und manchmal sogar für eine Geliebte.

 

Doch seit den 70er Jahren kehrt sich der Trend wieder um. Vor allem weniger gut ausgebildete Arbeiter mussten sich mit geringeren Lohnanstiegen begnügen. Mit der Globalisierung sank die Verhandlungsmacht der Arbeitnehmer. Die Unternehmen hatten die Macht, die Arbeitskosten massiv zu reduzieren.  Viele machten fette Gewinne, das Kapital floss aber zunehmend in die Hände weniger, den Unternehmern, ganz besonders aber zu den Kapitalgebern. Der französische Ökonom Thomas Piketty hat nachgewiesen, dass die Einkommensverteilung wieder ein Niveau wie zu feudalistischen Zeiten erreicht hat. In „ Kapital im 21. Jahrhundert“ schreibt er: Heute wie damals gibt es eine kleine Gruppe extrem reicher Menschen, die über einen gewaltigen Teil aller Einkommens- und Vermögenswerte verfügen, während der weitaus größere Teil der Menschheit wenig mehr besitzt als die Arbeitskraft.

 

Menschen arbeiten so effizient wie noch nie zuvor in der Geschichte, trotzdem arbeiten sie viel mehr als ihnen guttut. Etliche Studien bringen zu viel Arbeit mit Schlafproblemen, Gewichtszunahmen, hohem Blutdruck, Angststörungen und Depressionen in Verbindung. Wie sich ein Zuviel an Arbeit auf die Familien, auf die Partnerschaft auswirkt, wird noch viel zu wenig erforscht. Forscher des Melbourne Institute of Applied Economic and Social Research, fanden heraus, dass arbeitende Menschen bei einer 25-Stunden-Woche kognitive Spitzenleistungen erbringen. Alles, was darüber hinausgeht, mindert die Leistung.  Experimente mit einem 6-Stunden-Tag, wie zum Beispiel bei Toyota in Göteborg, bestätigen diese Ergebnisse aus der Grundlagenforschung. Die Menschen sind schlicht zufriedener und gesünder, wenn sie weniger arbeiten.

 

Die Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung in Deutschland wünscht sich  eine Arbeitszeit, die 30 bis 35 Wochenstunden umfasst. Nur wenige können das bisher realisieren, sehr häufig wegen finanzieller Gründe. Doch selbst  hochqualifizierte Doppelverdiener-Paare, die sich weniger Arbeit eigentlich leisten könnten, arbeiten nicht weniger. Denn wer Ambitionen auf eine Karriere hat, muss noch immer Präsenz zeigen und Überstunden leisten.

 

Wir arbeiten, um zu leben. Aber wir leben nicht nur um zu arbeiten. All sein Glück an die Arbeit zu hängen ist verführerisch, aber nachhaltig riskant. „Es wird viel Schaden angerichtet durch den Glauben an die Tugendhaftigkeit der Arbeit“, schrieb der britische Philosoph Bertrand Russel 1932  in seinem Essay "in praise of idleness". „Der Weg zu Glück und Wohlstand liegt in der organisierten Verminderung der Arbeit."

 

Der Historiker Rutger Bregman, gerade 27 Jahre alt, hält in seinem Buch "Utopia for realists" ein begeisterndes Plädoyer für die 15-Stunden-Woche und bezieht sich dabei auf Keynes. Die drastische Reduzierung der Arbeitszeit verlange allerdings sanfte Gewalt seitens des Staates. Dieser müsse die Menschen zwingen, weniger zu arbeiten und mehr Freizeit zu genießen. In den Niederlanden, Bregmans Heimat, arbeiten die Menschen so wenig wie sonst in keinem Industrieland der Welt. Trotzdem steht Holland im globalen Ranking der Pro-Kopf-Produktivität an fünfter Stelle.

 

Ohne kollektive Lösungen lässt sich die Spirale von "Immer-mehr-Arbeit-für-immer-weniger-Geld" nicht durchbrechen. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit den gesellschaftlichen Auswirkungen des neuen Kapitalismus. Für ihn liegt die Lösung in mehr Mitbestimmung der arbeitenden Bevölkerung, aber auch in einer massiven Besteuerung des Finanzkapitals zugunsten produktiver Arbeit. Sennett selbst hat ein sehr erfülltes Leben neben der Soziologie. Er spielt leidenschaftlich Cello.

 

Arbeit gibt dem Leben Sinn, wenn sie freie Entfaltungsmöglichkeiten schafft, Zeit zum Musizieren zum Beispiel.  Die Inernational Labour Organisation ILO bezeichnet eine solche Arbeit als „decent work“, der Deutsche Gewerkschaftsbund hat daraus den Begriff „Gute Arbeit“ geschaffen. Gute Arbeit bedeutet, dass der Job die Existenz sichern kann und gleichzeitig Zeit lässt, ein Leben der Arbeit zu haben.

 

Der Traum von einem Mittelschichts-Leben: ein Autos, ein eigenes Haus, der ist auch in Deutschland  durch harte Arbeit für immer weniger Menschen zu erreichen. 40 Prozent der arbeitenden Bevölkerung leben von der Hand in den Mund und können von ihrem Lohn keine Rücklagen bilden, beklagt der Chef des DIW, Marcel Fratzscher 

 

Die Generation meiner Eltern war noch dazu in der Lage, mit relativ einfacher Arbeit solide den Mittelstands-Traum zu leben. Für viele meiner Generation ist dieser Traum, trotz höherer Qualifikation, trotz einer höheren Wochenarbeitszeit, trotz Doppelverdienst, in weite Ferne gerückt.  Macht Arbeit unter diesen Umständen Sinn? Wenn Sie individuell Freude bereitet, die Existenz sichert und Zeit für ein ausgefülltes Privatleben lässt, sicherlich. Doch diesen Luxus dürfen immer weniger Menschen genießen, trotz steigendem Bruttoszialproduktes.